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Der neueste Film von Mel Gibson, Die Passion Christi, hat sich als einer der umstrittensten Filme der jüngsten Zeit erwiesen. Dem Film, der zeigen wolle wie straffällig die Juden am Tode Jesu seien, ist das Etikett des Antisemitismus aufgeklebt worden. Überdies hat die schonungslose Gewalt, der wir auch als christliche Zuschauer ausgesetzt werden, weiter nur die Problematik des „blame game“ heraufgesetzt. Wo viele Theologen und religiöse Führer (die offenbar nicht immer bedeutungsgleich sind) neben Kritikern den Film, sogar noch bevor er den Schneidtafel erreicht hat, als sehuntüchtig erklärt hatten, möchte ich ihm als gläubige evangelische Christin von einem anderen Blickwinkel herangehen, nämlich vom filmisch-künstlerischen.
Ich gehe vom hermeneutischen Grund aus, dass es viele Perspektiven gibt, von denen aus Beobachter einem Kunstwerk Bedeutung zumessen. Demgemäß ist es verständlich, dass Anklagen von antisemitischer Propaganda, die gegen den Film und seinen Hauptautor, Mel Gibson, erhoben worden sind. So schaut einfach der Verstehenshorizont aus, mit dem man bei der Beurteilung rechnen muss. Das schließt aber nicht aus, dass man manche Argumente, die für diese Sicht angeführt werden, gelegentlich selbst „peinlich und nicht selten auch lächerlich“ finden darf[1]. Manche Leute weisen darauf hin, dass die reine Tatsache, dass eine rumänische Jüdin, Maia Morgenstern, deren Eltern von den Nazis verfolgt wurden, die Mutter Jesu spielt, den Vorwurf eher unwahrscheinlich macht. Das ist aber noch kein künstlerisches Argument vom Film selbst aus gesehen. Der Film suggeriert in der Tat klare nicht-antisemitische Züge. Nehmen wir als Beispiel den Filmausschnitt, wo ein römischer Soldat Simon mit Abscheu als „Jude“ beschimpft. Dies ruft gerade die Sympathie der Zuschauer mit dem Juden und Ablehnung gegen die Judenverächtung des Römers hervor.
Gibson selbst reagiert mit Recht ziemlich irritiert, wenn er mit diesem Thema konfrontiert wird. Als Antwort auf die Frage eines italienischen Journalisten, wirft Gibson eine interessante Gegenfrage auf, mit der sich niemand wirklich auseinander zu setzen scheint: „Haben Sie überlegt, ob der Film anti-römisch ist?“[2]. Natürlich nicht. Die post-Auschwitz-Brille wird der ganzen Welt als sine qua non auferlegt. Auschwitz ist aber nicht die Schuld der ganzen Welt, nicht die des ganzen Christentums, auch nicht des christlichen Bekenntnisses, sondern von bestimmten deutschen Menschen, die oft im Namen des Christentums, oft aber auch anti-christlich die christliche Religion missbraucht haben. Dass deutsch geprägte Theologen sich dafür mitverantwortlich fühlen, sich damit abfinden müssen und sich Filme kaum anders als durch diese Brille ansehen können, ist verständlich, zu respektieren und vielleicht auch ihr Schicksal. Aber sie dürfen sich auch mal Respekt für andere Zugänge überlegen. Es gibt auch andere Perspektiven, die das nicht leugnen, selbst aber auch nicht verdienen, verunglimpft zu werden, weil sie anders sind. Sie werden nicht illegitim, weil Deutsche eine Vergangenheit aufzuarbeiten haben, auch nicht, wenn manche unter diesen sich offenbar besser fühlen, wenn sie das ganze Christentum mitverantwortlich machen können. Ist das nicht auch eine Art Schuldzuweisung?
Die Passion Christi ist nicht zuletzt deswegen ein christlicher Film, weil er sich in aller Klarheit dem christlichen Abendmahl anlehnt. Als solcher zwingt er die Zuschauer werk-immanent, zu überlegen, ob Jesus die Via Dolorosa im Sinne des Abendmahls gegangen ist. Von der Darstellung selbst her ist die Antwort natürlich Ja und demgemäß ist die Ursache seines Leidens die menschliche Sünde in ihrer Ganzheit. Ist das nicht die Grundsubstanz des christlichen Glaubensbekenntnisses? Hat der Sohn Gottes nicht gelitten und ist er nicht gestorben für alle Menschen? Im Film wird das vom Positiven sowie vom Negativen her zum Ausdruck gebracht. Einerseits sagt Jesus es im hermeneutischen Schlüssel der Abendmahlsszene: „Mein Leib, für euch gegeben“ – für Juden und von ihnen aus für die ganze Welt. Andererseits ist der Teufel gezwungen, zuzugeben: die Schuld aller Menschen fallen auf einen Mann. Biblisch stimmt es schon, dass Judas Jesus verratet und die Priester Jesus verklagen, aber Pilatus trägt genau so Schuld (wenn von Schuld die Rede sein muss). Man meint, Pilatus sei sympathisch dargestellt worden. Ganz im Gegenteil ist gut zu argumentieren, dass er im Film als totaler Feigling erscheint. Was ist sympathisch an einem Mann, der die Folterung und den Tod Jesu verhindern konnte, das auch wusste, aber den Mut nicht hatte?
Auch die Tatsache, dass die Priester visuell unsympathisch wirken können, ist keine Erfindung Gibsons, sondern kunsthistorisch erklärbar. Man erkennt nämlich in den Blicken der jüdischen Priester (einer bestimmten Partei) deutlich den Einfluss Rembrandts, den Gibson hier wie in der Pilatusszene so zum Vorbild nimmt, dass man von einem künstlerischen Zitat sprechen kann[3]. Wahrscheinlich würde kein Pfarrer darauf kommen, Rembrandt-Bilder als „Machwerk“ zu beschimpfen (wenn er wüsste, sie waren Rembrandts).
Einschlägig ist, dass der Regisseur Wert darauf legt, dass die „Schuldträger“ im Film die schicksalhaften Folgen ihrer Taten einsehen: Judas wird von seinem schlechten Gewissen in der Form dämonischer Kinder verfolgt und nimmt sich folglich das Leben; die Priester begreifen zum Schluss die Größenordnung des Tages und weinen; die Mehrheit der römischen Soldaten wirken auch, obwohl weniger als die Priester, von den Ereignissen betroffen. Der Leidensweg Jesu führt also nicht nur vom Leben zum Tode, sondern hat mehrere Haltestellen, wo der Sohn Gottes von der Menschheit gefoltert wird, nicht nur körperlich, sondern auch psychisch. Offen gestanden finde ich den evidenten Zweck des Filmes darin, dass die Erfahrung des christlichen Glaubens an der gigantischen Hingabe Jesu präsent gemacht wird. Er ist nur dann in einer Schuldsuche auffindbar, wenn man an einer solchen Interpretation Bedarf hat. Also können die Elemente im Film, die so wütend angegriffen werden, auch als Grundbestandteile des christlichen Bekenntnisses aufgefasst werden. Darüber hinaus wage ich, mich als bewusste Protestantin und Humanistin zu freuen, dass der Film bereits deswegen bedeutungsvoll ist, weil er durch seine nackte Umstrittenheit eine Wiedererlebung des Interesses an der christlichen Religion bewerkstelligt hat – was wenige mir bekannte Kirchenführer vom eigenen Lebenswerk sagen können.
In dieser Umstrittenheit werden die Absicht und artistische Wirkungskraft des Filmes klar. Es wird behauptet, dass, wenn ein Film sich für historisch korrekt ausgibt, er das Bereich der Kunst verläßt, da man nur ein Kunstwerk schaffen kann, wo man sich der Fantasie, also der Seele, ergibt und das kreative Endprodukt so schließlich zur Fiktion wird. Das stimmt für die erzählten Evangelien genauso wie für den Film. „History“ wurde „his story“. Künstlerische Darstellung des christlichen Glaubens war noch immer inhärent Teil dieser Religion, und Gibsons Interpretation der Passion gehört zu der Religionskunst, die schon mit den Evangelisten begann. Dazu passt die Aufgabe der künstlerischen Freiheit. Der Film bekam seine Inspiration von der erzählenden sowie von der bildenden Kunst der christlichen Tradition. Nach dem Kinematograf des Filmes, Caleb Deschanel, ist er stark von den Werken Dalis und Caravaggios beeinflusst worden. Deschanel sagte auch in Bezug auf die visuelle Kraft des Filmes: „In der Pamphilli Palast in Rom findet man eine ganze Sammlung Gemälde, die [beleuchtet sind durch] Kerzenlicht. Ich habe sie studiert und ging auch wo ich sie unter Feuerlicht und Mondlicht untersuchen konnte. Man schafft nicht Realismus oder Naturalismus, man schafft eine Illusion, einen Eindruck. Auf dieser Weise ist der Film eine Metapher der Zeit. Der Olivengarten hat eine mystische Qualität, aber irgendwie akzeptiert man sie. Das Gleiche gilt für die Feuerbeleuchtete Szenen – wir wollten nur die Illusion der Realität kreieren“[4]. Nicht einmal entfernt ist hier von wie-es-wirklich-war-Fundamentalismus die Rede. Dann kommen dazu noch die oben referierten Einflüsse Rembrandts[5].
Auch die Gewalt im Film hat ihre religiösen sowie künstlerischen Gründe. Religiös gesehen, spielen die gnadenlose und extrem blutige Folter und Leidensweg Jesu eine notwendige Rolle in der christlichen Erfahrung der Geschichte. Wie seine Geburt, wird die Passion Jesu vor allem in der katholischen Tradition (von der Gibson Erbe ist) als eine idyllische, äußerst sterile Begebenheit dargestellt. Aber auch „gut zivilisierte“ Evangelische wollen nicht gerne in ihrer bequemen Religion gestört werden. Das Nachfühlen der wahren Größe des Gottesopfers wird damit blass und stumpf, ist aber so keiner tiefen religiösen Erfahrung mehr gleich und wird deswegen nicht ernst genommen. Beim Anschauen dieses Films sind wir nicht nur bloße Zuschauer eines weit entfernten Ereignisses, sondern werden Teil des Grauens und wir fühlen den Schmerz. Daher ertragen viele Leute es so schwer, dass sie eher schimpfen. Ich habe auch beim Anschauen der Gewaltsszenen erzittert. Aber für mich bestätigt es: Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil. Und wie auch die (kirchliche) Welt mir das Gefühl verteuere, empfind ich tief das Ungeheure: Christus hat für mich gelitten, ich bin nach Paulus in Christi Leiden und Tod hineingetauft worden. Jetzt empfinde ich, was das bedeutet. Es war, es ist etwas Entsetzliches. Es hat Gott einen furchtbaren Preis gekostet, um ausfindig zu machen, was Leiden ist. Wenn Gott seine Majestät verlassen musste, um mal an eigenem Leib zu lernen, was die ganze Menschheit Jahrtausende lang – auch an einem Tiefpunkt wie Auschwitz – leiden musste, dann ist das schon fürchterlich. Gewalt ist nur deshalb keine Lösung für unsere Konflikte, weil sie zusammengeballt in Gottes eigene Erfahrung gebracht wurde. Das ist die Lösung.
Wie ich mein Bekenntnis verstehe, ist das genau, was auch die evangelische Abendmahlslehre erreichen will. Immer wieder, unerbittlich, müssen wir im Präsens hören und schauen, wie fürchterlich „sein Leib gebrochen“ und wie grausam „sein Blut vergossen“ werden. Ist die Abendmahlssymbolik menschlicher, schöner, weniger grausam als die filmische Symbolik Gibsons? Können wir dabei noch gebührend grauen? Oder haben wir es verlernt? Anders gefragt: Ist es uns noch zutiefst ernst? Der Tod Jesu ist nur so keine bloße religiöse „Geschichte“ mehr, die wir ab und zu in der Kirche hören (wenn wir überhaupt noch dort kommen), sondern er wird zu einer religiösen Präsenz in der Erfahrungswelt eines Christen. Wenn das reformierte „wahre Gemeinschaft mit Christus haben“, das lutherische hoc est oder Johann Sebastian Bachs grausames "Haupt voll Blut und Wunden" nicht dies bedeuten, was bedeuten sie dann?
In diesem Zusammenhang ist die Nebeneinanderstellung der Kreuzigung und des letzten Abendmahls wirkungsvoll in der Filmregie aufgeführt. Zum einen schaut Johannes zu, wie die Hände Jesu festgenagelt werden und erinnert sich, mittels eines Flashbacks, an das letzte Abendmahl – wie Jesus beide Hände verwendet, um seinen Jüngern eine Botschaft zu vermitteln. Dann wird der Leib Jesu gehisst, also erhoben, wie in der katholischen Liturgie die Hostie erhoben wird. Das wird wiederum durch ein Flashback gezeigt, bevor man das Blut vom Leib Jesu in einer Nahaufnahme herunter fließen sieht. Anschließend präsentiert Jesus seinen Jüngern den Kelch, der sein Blut vergegenwärtigt. Gibson stellte nicht nur filmisch gut dar, was der Grund für die Beziehung vom Abendmahl zum Mittelpunkt unseres Glaubens ist, sondern fasst damit diesen Glauben auch kräftig zusammen. Das bedeutet nicht, dass die Auferstehung übersehen wird. Die schockierende Nacktheit des auferstehenden Christus erhebt den Sieg über Gewalt und Tod zum Höhepunkt. Aber ein Höhepunkt, der ein Mysterium ist und daher nicht in Detail dargestellt werden kann.
Die Passion Christi ist also, trotz gewissen historischen Referenzfehler, wie die Verwendung von Latein statt Griechisch in der Gesprächszene zwischen Pilatus und Jesus, ein Film, der eine Geschichte der Jahrhunderte künstlerisch interpretiert und zeitgemäß wiedergibt. Wie zeitgemäß, zeigt uns die Zeitbezogenheit der entfesselten Debatte. Letztendlich soll der Zweck eines guten Films sein, eine Idee, einen Gedanke oder eine Überzeugung bildlich – mit der Vielfalt ihrer Aspekte – zu einer integrierten Einheit zu binden, die trifft. Wie hart Mel Gibson mit seiner Passion Christi getroffen hat, belegt eloquent die Aufregung der Aufgeregten. Dass es Juden unter ihnen gibt, kann ich – angesichts der schandbaren Geschichte der Judenverfolgung, die nicht das Christentum, sondern manche (leider: viele) Christen ihnen nicht wegen, sondern trotz des Evangeliums ausgemessen haben – verstehen und respektieren. Aber die Ressentiments gegen die Interpretation von angeblicher Judenschuld am Tode Jesu hat nicht Gibson losgetreten, sondern die Kirche selbst – deswegen haften sie Jahrhunderte lang dem Evangelium und dem Symbol des Kreuzes selbst an. Das kann man in der Kirche nicht mit einer neuen Schuldverschiebung los werden, so dass Gibson stellvertretend für Kirchenführer zu leiden hat, damit sie losgelassen werden können. Sie dürften finden, dass das Volk nicht um ihre Freilassung ruft.
Kirchenführer, die der Verkündigung zu dienen haben, haben aber eine andere Schuld zu verantworten. Sie haben die frohe Botschaft unhörbar, daher ungehört und für viele Tausende meiner Generation unzuhörbar gemacht. Die Mundart der Kirche verstehen wir nicht. Die Gibsons schon. Wo fehlt die Jugend – in der Kirche oder im Kino? Ist das kirchliche Establishment nur seines älteren Bruders Hüter? Oder auch seiner eigenen Söhne und Töchter? Wir sind auch Blut von seinem Blute. Im gewalttätigsten und blutigsten Buch von allen mir bekannten, der eigentlich jüdischen aber nachträglich christlich zugeeigneten Heiligen Schrift, wird ebenfalls vom Blut, das auf einen zurückkommt, gesprochen. Dort droht Gott selbst seinem Propheten, dass er das Blut von jedem, der wegen mangelhafter Verkündigung verloren geht, vom Botschafter fordern wird. Ich meine, Mel Gibson müsse sich vor dieser Drohung weniger fürchten als viele seiner kirchlichen Kritiker, die schon immer fromm waren.
Dr. Reina-Marie Loader
Department of Film Studies
University of Reading, England
[1] Den Ausdruck verdanke ich M. Bünker, Wenn Mad Max fromm wird: Passion Christi – Ein „Jesus-Schocker“ in unseren Kinos, Reformiertes Kirchenblatt 81/4 (2004), S. 4.
[2] J. Cooney, Total Film 88 (2004), S. 72.
[3] So J. Phelan, The “Look” of Mel Gibson’s The Passion of the Christ, elektronische Publikation: www.artcyclopedia.com/feature.html (15.04.2004).
[4] S. Pizzello & R.K. Bosley, A Savior’s Pain, American Cinematographer 85/3 (2004), S. 55.
[5] So J. Phelan, The “Look” of Mel Gibson’s The Passion of the Christ, elektronische Publikation: www.artcyclopedia.com/feature.html (15.04.2004).